Toni Lamprecht wird Berggeist des Jahres

Laudatio von Thomas Bucher, Pressesprecher des DAV

Es ist mir eine große Ehre, dass ich die Laudatio zum Berggeist des Jahres für meinen langjährigen Freund Toni halten darf. Langjährig stimmt wirklich: Es gibt nur wenige Menschen außer meinen Eltern und meinem Bruder, die ich länger kenne als Toni. Er ist der Sandkastenfreund meines kleinen Bruders, unsere Eltern sind mit uns Kindern gemeinsam in die Bergsteigerferien ins Wallis gefahren, in den späten 70ern und den frühen 80ern war das. Damals war ich schon alt genug, um auf die ersten 4000er mitgehen zu dürfen, Toni und Albert mussten noch unten bleiben und die Bergsteigerei mit Playmobil spielen. Ich darf also sagen: Als einer der wenigen in der Kletterszene kenne ich den Toni noch als einen, der kleiner und schmächtiger war als ich. Jetzt ist er der „Stier von Kochel“. Wie kam es dazu?

I: Der Stier von Kochel

Kochel ist ein Klettergebiet südlich von München. Nicht allzu weit von Starnberg weg, wo der Toni aufgeachsen ist. Nach ein oder zwei Lehrjahren an einem kleinen Felsen am Starnberger See zog es ihn nach Kochel. Das war Mitte der 80er Jahre, allzu viele Routen gab es dort damals nicht. Einige vom Sepp Gschwendtner waren dabei, aber die waren dank einer sehr steilen Lamprecht’schen Lernkurve schnell abgehakt. Alternative Klettergebiete gab es damals nicht wirklich, also blieb dem Toni nichts anderes übrig, als selber aktiv zu werden. Unglaublich aktiv zu werden. Und nachhaltig aktiv. Denn der Erschließungsdrang hat beim Toni bis heute nicht nachgelassen, also 35 Jahre lang nicht. Alleine in Kochel hat er deshalb inzwischen über 300 Routen erstbegangen – und sicherlich ähnlich viele Boulder.

Das ist insofern ganz besonders bemerkenswert, als ich schon vor 20 Jahren davon überzeugt war, dass viel mehr als eine gewisse Resterschließung an den „paar Schrofen“ (O-Ton Stefan Fürst) wohl nicht mehr gehen würden. Erst danach ist aber ein Großteil von Tonis Werken dazugekommen. Superschwere Touren, superlange und superspektakuläre Touren. Ebenso schwere und spektakuläre Boulder. Das Felspotenzial in Kochel war, das muss man einfach sagen, für alle Menschen unsichtbar – außer für Toni. Toni hat die Linien gefunden und sich reingebissen, oft monatelang. Es ist eine ganz, ganz große Stärken von Toni, immer das absolute Maximum herauszuholen, dran zu bleiben, nicht aufzugeben. Ohne den Toni wäre Kochel sicherlich ein regionales Klettergebiet geblieben. Mit ihm ist es international bekannt geworden.

II: Grönland & Co

Grönland fängt in Berg am Ostufer des Starnberger Sees an. An einem Felsen im Wald oberhalb der wegen Ludwig II ziemlich berühmten Votivkapelle. Ähnlich wie in Buchenhain gibt es dort Konglomerat, aber brüchiger. Toni machte dort zusammen mit mir, meinem Bruder und einem weiteren Freund seine ersten Klettermeter. Soweit ich mich erinnere ungefähr zwei Jahre lang. Eine Kletterszene gab es dort nicht, andere Kletterer auch nicht wirklich. Wie das mit dem Klettern geht, hat er sich selber beigebracht. Das fing übrigens mit dem Hakenschlagen in Buchen zum Zweck der Einrichtung eines Topropes an. Gottlob kam irgendwann ein erfahrener Bergsteiger, der ab und zu dort trainierte, und brachte uns von den schlimmsten seil- und klettertechnischen Irrwegen ab.

Haken gab es in Berg nicht, weswegen wir recht bald solche setzten. Mangels Kenntnis waren das rund 25 Zentimeter lange Gerüstösen aus dem Fundus von Tonis Vater, einem Maurer. Dazu brauchten wir riesige Löcher, die wir in stundenlanger Arbeit mit ganz normalen Maurer-Meißeln schlugen und dann mit ganz normalem Zement verfüllten. Sommers wie winters waren wir dort, oft den ganzen Tag und bis in den Abend, auch wenn es schneite oder klatschnass war.

Ich bin mir ganz sicher, dass Tonis Erschließungsgeist in Berg geboren wurde, und dass er dort gelernt hat, dass Kälte, Schnee, Nässe, Dreck, Bruch und Klettern irgendwie zusammengehören. Dieser Geist hat ihn dreimal nach Grönland, zweimal nach Kanada und einmal nach Kirgistan getrieben. Jedesmal sind dabei wilde Erstbegehungen durch große und abgelegene Wände herausgekommen, in vielen Fällen ganz ohne Bohrhaken, dafür mit vielen Seillängen und hohen Schwierigkeitsgraden.

III: Buchenhain

Wer kennt nicht die Felsen an der Isar südlich von München. Früher das Trainingsgebiet aller Münchner Kletterer, heute vollständig aus der Mode gekommen, weil die vielen Kletterhallen viel bequemer sind und viel bessere Trainingsmöglichkeiten bieten – zu jeder Tageszeit und auch im Winter. Es gibt aber nach wie vor eine kleine einschworene Gemeinde, die sich regelmäßig dort trifft. Auch an kalten Novemberabenden, dann eben mit zahlreichen Stirnlampen. Und wer ist die treibende Kraft hinter dieser eingeschworenen Gemeinde? Der Toni. Er klettert nie in Kletterhallen, es sei denn mit seinen Schülern, aber nicht für sich. Und er sagt, das sei doch viel gesünder für die Knochen. Ganz glauben mag man ihm das eigentlich nicht, denn die Griffe in Buchenhain sind alles andere als ergonomisch, aber die Wirklichkeit gibt ihm Recht, denn außer ein paar Kleinigkeiten hat sich der Toni nie verletzt in seiner nicht mehr ganz kurzen Kletterkarriere.

IV: Der Stier von Kochel, Teil II

Literweise Milch. Gerüsthaken mit dem Maurermeißel versenken. Ein paar Schrofen zu einem bedeutenden Klettergebiet machen. Expeditionen in die Kälte und zu den Mücken. Lieber in Kälte und Dunkelheit am kleinen und kalten Griffen ziehen als in der warmen Kletterhalle turnen. Tonis Kletterkarriere ist voll von Besonderheiten und Skurrilitäten, von krassen Aktionen und einmaligen Begebenheiten. Hätte ich die Zeit, ich könnte noch viel mehr Anekdoten erzählen, und dabei kenne ich nur einen winzigen Ausschnitt aus Tonis Leben.

Das Besonderste am Toni sind aber keine Anekdoten, keine Geschichten. Das Besonderste am Toni ist das, was er ist. 35 Kletterjahre liegen hinter ihm, fast 50 Lenze ist er inzwischen alt. Er ist kein Kletterprofi, war es auch nie. Er übt einen ganz normalen bürgerlichen Beruf aus, er ist Sonderpädagoge an einer Schule in München. Und doch klettert er immer noch einen 11er. Ist immer noch genauso on fire wie vor 35 Jahren. Haut eine Erstbegehung nach der anderen raus. Hat immer noch große Ideen im Kopf und scheut sich überhaupt nicht, diese Ideen in die Tat umzusetzen. Toni brennt fürs Klettern wie kein Zweiter. Sein Motor ist er selber, sein Motor ist seine Begeisterung, sonst nichts. Ich zitiere Micki Pause: „Der Münchner Alpenklub Berggeist möchte mit dem Berggeist des Jahres auf Personen aufmerksam machen, die sich besonders um den „idealen Wert des Bergsteigens“ verdient gemacht haben.“ Aus meiner Sicht ist Toni perfekte Wahl.

Toni wohnt mit seiner Frau Margit in München Sendling. Keine 300 Meter von seiner Wohnung entfernt steht die Statue des „Schmied von Kochel“, eines oberbayerischen Volks- und Kriegshelden von äußerst stabilem Körperbau. Wenn man dem Schmied von Kochel seine Fahne, die er über die Schultern trägt, wegnehmen und dafür ein Seil umhängen würde, wäre die Statue schnell in den „Stier von Kochel“ verwandelt. Eine gutes Zeichen wärs aus meiner Sicht. Pädagoge, Musiker, Kletterer. Statt Krieger.

Knapper Auszug aus Tonis „Tourenbuch“

1996 Bogaboos, Kanada (mit Günther Dengler), „The Power of Lard“ (9+)

und 2010 in Kanada

2001 Grönland, Bigwalls ohne Bolts, where he and a crazy crew make two lines up a 1200 meter big-wall: “Aquasky”, 5.11 and “Easy or Squeezy” 5.12/A4+ (=IX?) mark a new step in not using one single bolt and leading nearly all pitches in “On sight”.

2004 Grönland, Sportklettern bis IX ohne Bolts, „Ghetto-Boys“, (IX), 700 m (16

Seillängen): Wanja Reichel, Toni Lamprecht, Michi und Ivan Tresch, 12./13. August 2004

2011 Grönland, Sportklettern ohne Bolts, 10 neue Routen bis 7b

2007 in Madagaskar Zanoro Valley, zuvor zwei bedeutende Routen, 800m Wand (Kurt Albert, Lynn Hill), 2. komplett freie Route, 8a (Bolts)

2010 Beinahe-Unfall mit Benno Wagner in Kanada/Adamants,

2017 Kirgistan, Alexandra Supernova, 18 SL, 7b

III: Buchenhain, Berg und keine Kletterhalle

Kochel ist nicht wegen der „paar Schrofen“ (Stefan Fürst) so bekannt geworden, sondern wegen des Gebirges, das der Toni im Kopf und durch seine Präsenz gebaut hat.